QUATEMBERKINDER 2007

Theater Glarus, Switzerland, 2006 / 07

Co-Director with Ladina Meili of QUATEMBERKINDER by Tim Krohn

Text von Urs Albrecht

Informationen zur Glarner Fassung der “Quatemberkinder” von Tim Krohn

I. Inhalt

Das Glarnerland in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wenige Jahre vor dem Brand, auf der Dräckloch-Alp. Das Verdingkind Melk lernt hier inmitten von rohen und kauzigen Knechten das Handwerk eines Sennen. Wild geht es zu auf der Alp mit der unbändigen “Hudlenbaabe”, die nicht nur Objekt der Begierde, sondern – zu Fleisch und Blut geworden – auch tatkräftig auf ihre Weise mitarbeitet; verwundert wird Melk Zeuge davon, wie der Vehbub auf Limmeren, Balzli, mit höheren Mächten seine Arbeit im Handumdrehen erledigt und ihn selber vor einem Alpgeist rettet; angetan ist Melk vom geheimnisvollen Füchsli, das ihm begegnet und in dem sich in Tat und Wahrheit das Vreneli versteckt. Vreneli und Melk sind keine normalen Heranwachsenden, Quatemberkinder eben: Sie sehen die Welt mit anderen Augen und bewegen sich zusammen in einem archaischen Glarnerland voller Mythen, Hexli und Gschpängsterli. Das Vreneli möchte so gern auf dem Glärnischfirn ein Gärtchen anpflanzen, noch mehr möchte es aber seinen Melk. Die Liebesgeschichte geht jedoch wie sie selber seltsame Wege, zu Berg und zu Tal. Bei der Suche nach der Erkenntnis seines wahren Begehrens geht Melk bis nach Italien, und Vreneli scheint schon irgendwo in den Bergen begraben. Doch die beiden finden ihr Glück und ihr Gärtchen, weder der Teufel noch die Eifersucht kann ihrer Liebe etwas anhaben…

II. Sprache

Bereits für den Roman hatte Tim Krohn ein ganz neues, eigentümliches Idiom erfunden, das er für die dramatische Bearbeitung in der Tonalität auch übernommen hat. Die Kunstsprache beruht grundsätzlich auf dem Standarddeutsch, es flechten sich jedoch zahlreiche Einflüsse aus dem Glarner Regionaldialekt ein. Dieses Dialektale kommt bald unterschwellig in der Satzstruktur zum Ausdruck, bald in mundartlichen Ausdrücken, die standardisiert werden, bald in übertriebenen Archaismen, die heutzutage nicht einmal mehr von den Einheimischen aktiv verwendet werden.

Das gesamte Werk schöpft sehr stark aus der Wirkung dieser speziellen Sprache. Diese fällt nämlich insgesamt urig, roh und grob aus, macht jedoch gerade durch die Standardisierung der Mundart und deren ironische Gesteigertheit einen lieblichen und herzerfrischend naiven Eindruck. Die folgenden Beispiele mögen zur Illustration der sprachlichen Einzigartigkeit dienen.

 1. Akt, 2. Szene

Melk kommt für seine Arbeit als Viehhüter auf die “Dräckloch”-Alp und überschaut von dort oben das Panorama und wird dadurch beeindruckt:

“Ist das eine Schöni, mit den hohen Wänden vom Pfannenstock und dem Bös Fulen, wo geschichtet ist fast als wie ein Apfelbeggeli! Und alle die feinen Kammblüemli sind numen für meine Chueli. Und der Luft von der Brunalpelihöchi her ist gad wie ein Küssli.”

1. Akt, 6. Szene

Melk wird auf der Alp von einer Art Berggeist angegriffen. Der Viehhüter einer benachbarten Alp, Balzli, kommt ihm zu Hilfe und meint nach überstandenem Kampf über die Erscheinung:

“Oh, es Mendrsich halt, so Züügs hat es hampflenweise hier oben. Geschech nüüt schlimmers. So, nimm du erst emal ein Kaffi und tu ein klein höcklen. Settsch dir nicht alles gefallen lassen! Wie lang hast du denn noch wellen mit dem Mendrisch stupfen?”

1. Akt., 11. Szene

Melk ist nach der ersten Begegnung mit Vreneli hin und weg von dessen Angesicht:

“Wie kann man auch derenweg lüüchtiges Haar haben. Ettis strub ist es gsii, aber in einer Art strub wie das Fell von einem jungen Kälbli, asenweg herzig! Und ein paar Löckli haben ihm im Nacken geklebt, weil es nämlich auch einen bitz verschwitzt gewesen ist und röötsch im Gesicht, ich wüsste numen zu gern, von was das Vreneli so in die Hitz geraten ist, wenn es doch dervor numen im Haus gehockt ist. Oh, ist das aber schön gewesen zum Anlugen!”

Es gestaltet sich als eine äusserst heikle Angelegenheit, diese Sprache gebührend auf die Bühne zu bringen. Der auffällige Kontrast geht beim Sprechen etwas verloren, da in diesem Fall das mundartliche Element an Exotik verliert – man ist sich im mündlichen Bereich ja daran gewöhnt. Eine Chance für die Erhaltung des sprachlichen Charmes liegt in der Übertragung der Sprache in einen intensivierten Glarner Dialekt, der möglichst altertümelnd daherkommen sollte, oder in der Anwendung einer wiederum lokal eingefärbten spezifischen Variante des Glarner Dialekts, der von der Bevölkerung des Mittelland meist als archaischer und uriger eingestuft wird, obschon dies nicht der sprachhistorischen gerechtfertigten Einschätzung entsprechen mag.

III. Gehalt

Das Stück “Quatemberkinder” ist aus einem Flickwerk verschiedener Sagen und Märchen aus dem Alpenraum entstanden. Diese Sagen werden mittels Collagentechnik in den zentralen Handlungsstrang der Liebesgeschichte zwischen Melk und Vreneli integriert. Der Begriff “postmodern” geht sicherlich nicht fehl, wenn es darum geht, die “Quatemberkinder” als literarisches Werk zu charakterisieren. Der Autor nimmt alte Motive auf und verwendet sie neu. Verwendet wird unzähliges mythisches Erzählgut, das in verfremdeter Weise wiederkehrt.

So wird die Episode mit dem Stecken This und seiner “Schpuuse” manchen an die Volkssage erinnern, die zur Erklärung der Alpenvergletscherung hinhalten muss: Ein Senn auf Clariden vergeudet den sorgfältig hergestellten und lebensnotwendigen Käse dafür, um seiner Braut und seiner Kuh eine Treppe auf die Alp zu bauen. Die verarmte Mutter des Sennen verwünscht den Sohn und die Alp wird zu ewigem Eis.

Noch vertrauter dürfte einem das Vrenelisgärtli sein, das als Namen des für Glarus wohl charakteristischsten und markantesten Berges weit über die Kantonsgrenze hinaus bekannt ist. Der Sage gemäss pflegte das Vreneli dort oben ein Gärtchen, wie es sich Krohns Vreneli eines anlegen will. Die Steinklüfte rundherum schichtete der Vater, ein Berggeist, auf. Er wollte die Keuschheit des Mädchens bewahren. Ein Jüngling jedoch – darauf soll Melk anspielen – schaffte es bis ins Gärtchen hinauf, woraufhin der Vater Vreneli in einen Felsen verwandelte. Vreneli könne zwar von einem Kuss auf den richtigen Stein noch wachgeküsst werden, heisst es.

Doch die ausgeliehenen Motive beziehen sich nicht nur auf die heimatliche Kultur, der neues Leben eingehaucht wird. Auch Weltliteratur allerhöchsten Ranges hält Einzug in Melks Werdegang: Als Doktor Füster erinnert er unweigerlich an einen abgekupferten Doktor Faustus, und der Hörelimaa stellt einen etwas tollpatschigen Mephistopheles. Der Pakt und die Leistung, die der Hörelimaa erbringen muss, um sich Melks bemächtigen zu können… Alles ist da, wenn auch in einem wahrlich weniger Welt umfassenden, Erkenntnis stiftenden, Weltprinzip erläuternden Zusammenhang als bei Goethe: Melk kennt als einfacher Vehbube keinerlei Wissenschaften aus dem ff – er kann noch nicht einmal sein lateinisches Doktorenpatent entziffern -, trotzdem gelangt er alias Füster durch dieses Erlebnis zu keiner geringeren Lehre als sein Beinahe-Namensvetter. Er ist nun reif, als geläuterter junger Mann einen gemeinsamen Weg mit Vreneli in seiner Heimat einzuschlagen.

In der Verwurzelung der Realität in einem Haufen völlig irrationaler, fiktionaler Geschichten – immerhin spielt das Stück zur Zeit des Brandes von Glarus, eines der wichtigsten Eckdaten der Stadtgeschichte, und immerhin beanspruchen die Sagen durch ihre konkrete Lokalität unterschwellig ein Stück Wahrheitsgetreue – stiftet Krohn in den “Quatemberkindern” im bescheidenen Rahmen des Glarner Imperiums auf freilich humoristisch aufzufassende Art und Weise eine derartige Mythensammlung, wie sie Ovid in den “Metamorphosen” für die Urvätergeschichte Roms geschaffen hat. Insofern wird das “Dräckloch” oberhalb des Klöntals zu einem weltliterarisch angehauchten Schauplatz und vielleicht sollte Melks Alpsegen für seine Kühe eine Art orpheusschen Gesangs markieren.

Zuletzt soll gewürdigt werden, dass es Tim Krohn gelungen ist, mit den “Quatemberkindern” einen totgesagten Kunstzweig wieder zum Leben zu erwecken, nämlich denjenigen der Heimatkunst. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Alpen verklärt, idyllisiert und als heiles Kontrastprogramm zu politischen Wirren idealisiert worden, wodurch eine damit verbundene Kunst – sei es in Literatur, Film oder Musik – hoffnungslos in die Abgründe der Trivialität verflachte. Nun soll Krohns Text nicht etwa wiederum als Kontrastprogramm dazu, sozusagen als Entlarvung einer scheinbaren Heimatidylle, gesehen werden, denn tatsächlich verströmt das Heimatliche auch hier noch seinen Liebreiz und Melk wird nicht ironisiert, wenn er die Berge und ihr Leuchten im Abendrot “ä meineidi Schüüni” empfindet. Das Derbe, das Komische, das Sagenhafte, das Bildungsromanhafte, das Historische, das Weltliterarische, das Mythische, die Hommage an die Einfachheit vergangener Zeiten verleihen den “Quatemberkindern” jedoch eine derartige Vielschichtigkeit, dass sie zu einem Zeugnis dafür werden, wie längst Abgestandenes nach Jahrzehnten und Jahrhunderten wieder aufgefrischt und aufgetaut werden kann. Genau so, wie einst das Vreneli wieder aus seinem Chäschessiverschlag hervorgekrochen ist…

IV. Autor

Tim Krohn kann trotz seiner Abstammung aus Deutschland – er wurde 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren – als Glarner bezeichnet werden. In Glarus wuchs er nämlich ab seinem zweiten Lebensjahr auf. Hier besuchte er auch das Gymnasium. In seiner weiteren Ausbildung begann Tim Krohn ein Universitätsstudium an der Philosophischen Fakultät. Seit 1992 arbeitet er jedoch als freier Roman-, Drehbuch- und Theaterautor in Zürich. Seine literarische Tätigkeit erstreckt sich dabei bis zu einem Präsidium des Schweizerischen Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverbandes von 1998-2001. Im Laufe seiner Romanautor-Karriere hat Tim Krohn schon zahlreiche Preise eingeheimst, so war er beispielsweise 1993 Preisträger des 1. Internationalen Open Mike, erhielt 1994 den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis und 1998 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung.

In der Rezeption taucht im Zusammenhang immer wieder der Begriff der Postmoderne auf. Gekonnt und völlig frei spielt Tim Krohn auf der Tastatur der abendländischen Literaturgeschichte und scheut sich nicht davor, geläufige Motive zu übernehmen, zu verfremden, zu ironisieren. Es wäre indes ein Ding der Unmöglichkeit, Tim Krohn einem festen literarischen Programm anheim zu stellen.

Neben den grossartigen “Quatemberkindern”, seinem Bestseller-Roman aus dem Jahre 1998, vermag vor allem der 1997er-Roman “Dreigroschenkabinett” die angesprochene postmoderne Eigenart Tim Krohns zu illustrieren: Er versetzt den Stoff des Brechtschen Gaunerstücks “Dreigroschenoper” ins neue Deutschland nach dem Mauerfall, der auch dem legendären Mackie Messer neue Möglichkeiten eröffnet. Krohn variiert in Ton und Genre und geht dabei das Risiko ein, dass zuweilen ein Textganzes übersehen werden könnte. Die Kritik hat dieses virtuose Spiel teilweise für zu unverbindlich und gehaltlos deklariert. Dagegen hält jedoch Krohns eigene Sichtweise über sein literarisches Programm aus dem Jahre 1994: “Ein Autor hat die Pflicht, gesellschaftlich etwas bewegen zu wollen.”

Neben seiner Tätigkeit als Romanautor hat Tim Krohn vermehrt auch als Theaterautor gewirkt. In den Dramen verfährt Krohn ähnlich wie in seinem Prosawerk, so zum Beispiel in “Die apokalyptische Show von den vier Flüssen Manhattans” (1995), in dem er Einflüsse aus Garcia Lorcas “Kleine Ballade von den drei Flüssen” geltend macht.

Auch seine “Quatemberkinder” hat Krohn für die Bühne adaptiert, und dies gleich zweimal. Vor ein paar Jahren wurde das Stück aus Tim Krohns Feder bereits in Stans aufgeführt, nun hat er für das “Theater Glarus” eine komplett überarbeitete, neue Version verfasst.

Tim Krohns Arbeit für das “Theater Glarus”

Im Herbst 2004 fragte der Verein Tim Krohn an, ob er daran interessiert wäre, für das “Theater Glarus” eine Bühnenadaption seines Erfolgsromans “Quatemberkinder und wie das Vreneli die Gletscher brünnen machte” zu schreiben. Besonders Urs Albrecht, Leiter der Lesekommission des Vereins, war überzeugt davon, dass dieser grossartig, humorvoll, überaus kreativ und anrührend verwendete Glarner Stoff sowohl dem Verein als auch dem heimatlichen Publikum viel Freude bereiten würde. Bereits der Roman hatte sich hierzulande ja einer enormen Popularität erfreut.

Man beschäftigte sich zunächst mit dem Stanser Text der “Quatemberkinder”, befand diesen jedoch für zu allzu lang und schwierig umzusetzen. Darauf erklärte sich der Autor dazu bereit, eine Glarner Version zu schaffen, die dann auch den Bedürfnissen des Vereins und Publikums Rechnung tragen konnte. Urs Albrecht wollte vor allem das Lokalkolorit hervorgehoben haben, die derben Szenen auf der Dräckloch-Alp und die Vreneli-und-Melk-Liebesgeschichte sollen im Fokus stehen. Dies stellte Tim natürlich vor die schwere Aufgabe, den Stoff dahingehend zu kürzen, dass er die erwünschten Elemente zwar fokussierte, jedoch den Rahmen und die gesamte Geschichte trotzdem inhaltlich klar und motiviert erzählen zu können.

Entstanden ist, finanziell ermöglicht durch die grosszügige Unterstützung des Glarner Kulturfonds, eine schöne, fliessende, leicht zu konsumierende, wohl um die 90 Minuten dauernde Theaterversion, die vom Zauber des Originals nichts eingebüsst hat. Dabei wurde die Sprache, zweifelsohne im Zentrum des ästhetischen Lustgewinns bei der Lektüre des Roman, bei jener berühmten glarnerisch-hochdeutschen Mischung belassen, jedoch mit dem Verweis an die SpielerInnen, sich selbst eine Mundartversion anzueignen, die möglichst überhöht regional geprägt sein soll.

 

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